Lade ein zum Weg deines Herrn mit Weisheit und schöner Ermahnung, und debattiere mit ihnen auf die beste Art und Weise!
Islam, Koran Sure 16:125

Seid aber jederzeit bereit zur Verantwortung gegen jeden, der Rechenschaft von euch fordert über die Hoffnung, die in euch ist, aber mit Sanftmut und Furcht.
Christentum, 1. Petrusbrief 3:15

Literatur

Redaktionsteam Welt und Umwelt der Bibel (Hrsg.)

Der Koran mehr als ein Buch

Zeitschrift der Edition WELT UND UMWELT der Bibel

Verlag Katholisches Bibelwerk e.V. ,
WUB 1/2012, 9,80 Euro
www.weltundumweltderbibel.de

Welt der Bibel - Der Koran

„Der Islam gehört nicht zu Deutschland und gehört nicht zu Europa!“ Das ist eine Behauptung, die von Nichtwissen zeugt. Das vorliegende Heft „Der Koran Mehr als ein Buch“. tritt gegen diese Behauptung gleichermaßen den Gegenbeweis an mit seinen differenzierten und gut lesbaren und anschaulichen Beiträgen aus der Forschung der modernen Koranexegese, der Interpretation biblischer Texte in koranischer Theologie, den Spuren des Koran in christlicher Kunst und weiteren Beiträgen zu seinem Themenschwerpunkt.

Ein palästinensischer Christ – so zu lesen in den Hinweisen der Redaktion zum Heft – liest und schätzt den Koran, nennt ihn al karim – den Großzügigen, Edlen, weil er darin Verbindungen zur christlichen Botschaft entdeckt, eine Wahrheit, die auch Christen teilen können.

Das Heft enthält in sinnvoller, einander ergänzender Reihenfolge Beiträge internationaler Wissenschaftler, die in den Bereichen Islamwissenschaft, Arabistik, Religions- und Kulturgeschichte forschen, Islamische Religionspädagogik lehren oder die am Forschungsprojekt Corpus Coranicum der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften arbeiten. Ein Beitrag kommt aus der Feder des Rechtsprofessors und Direktors des Erlangener Zentrums für Islam und Recht in Europa, ein anderer von einer Spezialistin für islamische Kunst an der Hebräischen Universität Jerusalem.

Die Ausführungen einer Reiseleiterin über „die einzigartige Symbiose von Islam und Christentum in der Moschee-Kathedrale im andalusischen Cordoba“ runden das Heft ab.

Zu den Aufsätzen im einzelnen:

Beeindruckend zeigt die Berliner Arabistin Angelika Neuwirth in ihrem Beitrag Ist der Koran vom Himmel gefallen?, dass die koranischen Texte ihre Wurzeln ebenso wie die Bibel in der gemeinsamen Debattenkultur der Spätantike haben. Der Koran verliert mit diesem Wissen den „Makel der Epigonalität“ im Verhältnis zur Bibel (Hebräische Bibel und Evangelium), indem die Wissenschaftlerin Texte aus Bibel und Koran miteinander vergleicht und die neue „Stoßrichtung“ in der „koranischen Verkündigung“ aufzeigt. Nicht die einfache Übernahme eines biblischen Textes findet sich in den Suren, „sondern sie sind durchdrungen von einem neuen Gedanken: dem des von Gott gestifteten Wissens.“

Dies zeigt die Autorin überzeugend mit einigen Beispielen, z.B. dem Vergleich von Sure 55 mit dem Psalm 136 und einigen anderen biblischen und koranischen Texten. Die Forschung der Autorin zeigt: Der Koran ist religionsgeschichtlich ein kulturelles Erbe auch für Europa.

Zu dieser neuen religionsgeschichtlichen Einsicht steht innerislamische Perspektive nicht im Widerspruch, wie die Autorin überzeugend zeigt. Diese Perspektive, die besagt, dass der Koran nicht nur ein Buch ist sondern ein „Mehr“ in seiner Bedeutung für die Gläubigen. Es wird erklärt, warum der Koran bei den rituellen Gebeten und Gottesdiensten auf Arabisch rezitiert werden muss. In der Rezitation werden die Worte gesungen und damit zu einem sinnlichen Hör-Erlebnis. Die Gläubigen sprechen und singen diese Wort nach und wissen sich dabei Gott nahe. Angelika Neuwirth spricht von „der tonalen“ und „akustisch zugänglichen Verkörperung des Gotteswortes“ und sagt: „Die gesungene Koranrezitation ist wie eine Resonanz der Stimme Gottes. Um dieser Mitschwingung möglichst nahe zu bleiben, wird stets der arabische Wortlaut verwendet.“

Der Koran nimmt biblische Überlieferungen als Zitate oder Anspielungen auf. In der Sure 5:46-47 werden Tora und Bibel als von Gott gegeben anerkannt. Die französische Professorin für arabisch-islamische Zivilisation, Geneviève Gobillot, berichtet in ihrem Beitrag Wie schon geschrieben steht über ihre Forschungsarbeit an der Universität von Lyon III, d.i. die systematische Untersuchung der koranischen Bibelzitate. Das Ergebnis zeigt, dass diese nicht einfach übernommen wurden sondern mit reformatorischer Absicht weitergeschrieben und kommentiert wurden und dadurch zu etwas Neuem, Eigenem wurden.

Der Arbeitsstellenleiter des Forschungsprojektes Corpus Coranicum an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Michael Marx M.A., zeigt in seinem Beitrag Was sagt der Koran über Jesus? genau diese Absicht einer neuen Deutung der vorhandenen Traditionen am Beispiel des Vergleichs des biblischen Jesus und des koranischen Jesus. Es gibt viele Bezüge zur Bibel, zu den Apokryphen und zu Debatten innerhalb der frühen Kirche. Aber der Jesus in der Verkündigung Mohammeds wird von Gott „Jesus, Sohn Marias“ genannt und sein Handeln wird „in Abhängigkeit von einer göttlichen Erlaubnis dargestellt.“ Der christliche Glaube an die Gottessohnschaft Jesu wird damit verneint. Die weiteren vergleichenden Ausführungen des Autors zeigen mit den Unterschieden bei der Bedeutung des Jesus Christus in der Bibel und im Koran zwar die Nähe der Traditionen, aber insbesondere die „theologische Einzigartigkeit des Koran“. Er sagt: Der Koran sollte nicht „als religiöse Strömung christlichen oder jüdischen Ursprungs verstanden“ werden sondern „als eine im 7. Jh. in Westarabien verkündete prophetische Rede“.

In seinem Beitrag Der Koran in der Praxis Ein Leitfaden für das Leben der Muslime beschreibt Esnaf Begic, Islamwissenschaftler am Institut für Islamische Religionspädagogik an der Universität Osnabrück, wie die ethischen Normen des Korans das Leben der gläubigen Muslime und das Leben in muslimischen Gemeinschaften prägen. Die Rituale und Traditionen werden verständlich erklärt, und das Verhältnis zu Juden und Christen geklärt. Denn der Koran weiß sich in der „Fortführung und Bestätigung der früheren göttlichen Offenbarungstraditionen und erkennt die Juden und Christen als Schriftbesitzer an“. Diese Anerkennung in Sure 3:64 kann zur wichtigen Grundlage der religiösen Gespräche zwischen Juden, Christen und Muslimen werden.

Viele Muslime verstehen kein Arabisch, obwohl sie die Koranrezitationen in arabischer Sprache hören und sprechen. Sie können den Koran selten selbst lesen. Übersetzungen in die Muttersprachen sind nur Annäherungen.

Eine zweite wichtige und bedeutende Quelle für die Lebenspraxis der Muslime kann hier helfen. Das ist die Sunna, die „Wegweisung Muhammeds“, die in den Hadithen verschriftlicht wurde. Über ihre Inhalte, Entstehung und Deutungen durch Rechtsgelehrte und –schulen informiert detailliert ein weiterer Aufsatz: Das Buch Gottes und die Sunna Muhammads des Islamwissenschaftlers und Arabisten Ismail Mohr, ebenfalls wissenschaftlicher Mitarbeiter am Forschungsprojekt Corpus Coranicum. Die Bedeutung der Zusammenhänge von Koran und Sunna, von Rechtsschulen und Fatwas, die fehlende zentrale Lehrinstanz und die damit anspruchsvolle Freiheit für die Gläubigen werden in seinen Ausführungen deutlich und nachvollziehbar beschrieben.

In ihrem Aufsatz Das Geheimnis der Siebenschläfer, Sure 18, weist die evangelische Theologin und Arabistin Hannelies Koloska M.A. am Seminar für Arabistik an der FU Berlin auf, wie „kreativ mit den biblischen und kirchengeschichtlichen Traditionen umgegangen wurde.“

Im Text Die Scharia ist dafür sicherlich nicht verantwortlich, wird das Gespräch der Zeitschrift mit Mathias Rohe, dem Rechtsprofessor und Leiter des Erlangener Zentrums für Islam und Recht in Europa dokumentiert. Er nimmt die Scharia als Regelwerk in den Blick, das in muslimischen Gemeinschaften beachtet werden muss. Die Regeln wurden aus dem „Koran und der Überlieferung von Worten und Taten Mohammeds abgeleitet und in den unterschiedlichen Rechtsschulen unterschiedlich interpretiert.“

Es wird deutlich, dass „auch der Koran als Schrift auslegungsfähig und auslegungsbedürftig ist.“ Rohe sagt sehr klar: „Es gibt eine reiche Auslegungstradition, die verbietet, dass man einzelne – noch dazu in andere Sprachen übersetzte – Suren herauszieht und daraus versucht abzuleiten, wie der Islam schlechthin ist.“

Im Beitrag über die Prophetenerzählungen in der islamische Malerei wird von der Kunsthistorikerin Rachel Milstein von der Jerusalemer Universität auf die Ursprünge des Bilderverbots eingegangen und die Geschichte der sich dennoch entwickelnden Malerei an Beispielen aus verschiedenen Ländern gezeigt. Die Abbildungen zeugen von hoher Darstellungskunst und von „religiösen Verschmelzungsprozessen“ in den eroberten Ländern.

Im letzten Aufsatz Das Eigene im Fremden berichtet die Kunstgeschichtlerin und Leiterin von Studienreisen, Ines Baumgarth-Dohmen M.A., von zahlreichen Spuren des islamischen Glaubens und der Kultur des Orients in Kunstgegenständen der Dom- und Kirchenschätze Deutschlands und Europas bis hin zur Einarbeitung kleiner Kunstwerke in Reliquiengefäße. Auf dem Tor in den Hof der Moschee-Kathedrale von Cordóba aus dem 14. Jh., der Puerta des Perdón, finden sich das lateinische Wort „DEUS“ – angeordnet um ein Kreuz – und der arabische Schriftzug „Die Herrschaft ist Gottes – und jeder ist sein“ eingearbeitet in ein regelmäßiges und unendlich wirkendes Muster. Beide Bekenntnisse, miteinander verwoben im Relief der Türen, lassen die Vision aufleuchten von der „tiefen Einheit zwischen christlichem und islamischem Bekenntnis zum einen und einzigen Gott, ohne die Unterschiede zwischen ihnen zu leugnen.“

Über den reichen Wissensschatz hinaus, der für interessierte Leserinnen und Leser im Heft enthalten ist, gefällt besonders auch die äußere Gestaltung. Die Textspalten (zwei pro Seite) werden ergänzt mit den die Texte erläuternden Abbildungen: Fotos von archäologischen Funden, von Malereien aus dem ersten Jahrtausend und dem Mittelalter, sowie frühe arabische Koranseiten und Kalligrafien wichtiger Surenverse. In abgesetzten Kästen finden sich Definitionen, Begriffe und Erklärungen. Am Ende jeden Aufsatzes wird die Autorin oder der Autor mit Foto, Forschungsbereich und –ort vorgestellt. Zwei Seiten mit Büchertips ergänzen den Teil des Themenschwerpunktes.

Dort findet sich auch der Hinweis auf das Buch von Angelika Neuwirth Der Koran als Text der Spätantike.

Der Themenschwerpunkt des Heftes wird auf gut 50 Seiten ausgebreitet.

Auf den letzten 12 Seiten finden sich aktuelle, interessante Berichte zur biblischen Archäologie.

Das gesamte Themen-Heft vermittelt für den interessierten Laien ein solides Wissen zum heutigen Forschungsstand und bringt hohen Erkenntnisgewinn. Seine Verbreitung in viele Bereiche des öffentlichen und des kirchlichen Lebens, der Schulen und Bildungswerke ist wünschenswert. Unverzichtbar erscheinen mir die Erkenntnisse für diejenigen, die im christlich-islamischen Dialog stehen.

Doris Schulz

Erscheinungsjahr: 2012

Stichworte: Koran, Bibel, Hermeneutik, Religionsgeschichte, Europa, Jesus, Muhammad, Muslime, Siebenschläfer, Sunna, Scharia